Von Licht, Lebenspfaden und skandinavischem Luthertum

Impulse aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Finnland

Finnland. Ein Land fast so groß wie Deutschland, aber nur mit ungefähr 6,5 Prozent der Einwohner. Ein Land mit faszinierender Natur: riesigen Seenflächen, Birkenwäldern, Felsen, 100.000 Elchen, 200.000 Rentieren, 1.000 Braunbären. Weit im Nordosten der EU gelegen, das jüngste Mitglied der Nato, mit einer über 1.300 Kilometer langen Grenze zu Russland. Und mit einer unvergleichlichen Sprache mit wundervoll vokalreichen Wörtern (mit allein rund 18 Doppellauten, 16 Fällen und ohne grammatisches Geschlecht) – etwa in „Guten Tag“: „Hyvää päivää !“. Zugleich ein Land mit einer starken eigenen protestantischen Tradition, von der wir oft wenig wissen, aber viel lernen können. Bei unserer Reise im Rahmen der ökumenischen Besuche bei europäischen Partnerkirchen im Oktober dieses Jahres wurden wir als rheinische Delegation äußerst herzlich aufgenommen – eine überwältigende skandinavische Gastfreundlichkeit. Hier ein paar Impulse, die ich aus der Begegnung mitgenommen habe.

1. „To handle the Light of God“

Mit diesem Wort umschrieb Erzbischof Tapio Luoma die Kernaufgabe der Kirche: „Mit dem Licht Gottes umgehen und es weitergeben“. Licht spielt in Finnland eine wichtige Rolle, die den Sonnenstrahlen nachempfundenen Lampen des Designers Alvar Aalto sind Stilikonen. Licht als Hoffnungszeichen, Wärmequelle, Energie, in seinem Wesen nur schwer beschreibbar, Welle und Teilchen zugleich. Unverfügbar, elementar für alles Leben. „To handle the Light of God“ – das funktioniert letztlich nur, indem wir selbst aus dieser Quelle leben, für andere leuchten und so Gottes Licht auf den Scheffel stellen.

Der Zusammenhang von Natur und Glauben ist in Finnland an vielen Orten sichtbar. Etwa in der Felsenkirche in Helsinki (Temppeliaukion kirkko). Von außen kann man sie kaum sehen, weil sie tief in den felsigen Untergrund gegraben wurde. Ein Ort von mystischer Wirkung, eine weite, lichte Höhle. Eine riesige Kuppel aus Kupfer und 180 Fenstern, die Felswände aus unbehauenem Granit, von dem Wasser runterläuft, und eine faszinierende Akustik. In dem Bau spiegeln sich die bergenden Erfahrungen, wie sie die Architektenbrüder Timo und Tuomo Suomalainen in ihrer Kindheit in einer Höhle gemacht haben. Als die Kirche Ende der 60er-Jahre gebaut wurde, war sie ein Skandal, heute besuchen sie jährlich bis zu einer Million Menschen.

Etwas, was in allen von uns besuchten Kirchen auffiel, war die Wärme in ihnen. Wärmeorte mitten in einer rauen Natur. Oder auch als Ort der Stille und Einkehr wie in einer Holzkapelle in einer Einkaufsstraße im Zentrum von Helsinki.

Wie gehen wir mit dem Licht Gottes um? Wie prägt die Natur unseren Glauben? Und wie halten wir unsere Kirchen für andere offen – als Wärmeort, bergende Höhle, Raum der Stille?

2. Lebenspfade – und ihre vielfältige kirchliche Begleitung

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Finnland ist tief in der finnischen Bevölkerung vernetzt, zugleich verzeichnet auch sie einen starken Mitgliederschwund. Gehörten 1980 noch über 90 Prozent der Einwohner zur lutherischen Konfession, so waren es 2022 nur noch 65 Prozent, also 3,6 Millionen Mitglieder. Besonders die Möglichkeit zum digitalen Kirchenaustritt hat den Prozess noch einmal beschleunigt. 32 Prozent der Finnen sind konfessionslos.

Um speziell den Kontakt zu der jüngeren Generation zu stärken, verfolgt die lutherische Kirche ein Konzept persönlicher Lebensbegleitung, genannt der Pfad („the path“). Landesweit gibt es spezielle religionspädagogische Angebote für die verschiedenen Altersstufen und ihre Familien unter den Titeln Gift (0-2 Jahre), Joy (3-5), Adventure (6-8), Courage (9-11), Freedom (12-14), Trust (16-18), Contact (19-21) und Meaning (22-). Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Konfirmation mit 15 Jahren zu, die in Form besonderer Freizeiten durchgeführt wird. Es ist ein gesellschaftlich fest etabliertes Ritual, bei dem der allergrößte Teil der finnischen Jugendlichen erreicht wird. Viele von ihnen arbeiten später als Teamer*innen bei den Freizeiten mit. Für die jungen Erwachsenen (Millennials, Generation Y und Z) gibt es spezifische Strategien und Angebote für die unterschiedlichen Milieus (open-minded cultural Christians; materialistic and self-reliant; open-minded Changemakers; traditional Believers) – etwa Porridge-Partys an Weihnachten.

Die Frage personalisierter Lebensbegleitung spielt ebenso für die evangelischen Kirchen in Deutschland eine zentrale Rolle, da für rund 90 Prozent der Kirchenmitglieder vor allem Kasualien bzw. kirchenjahreszeitliche Feste die einzigen Anlässe für Gottesdienste sind. Die Kontaktpunkte im Lebenslauf zu stärken, stellt daher eine Zukunftsaufgabe dar – von Wegmarken in der Schule, Ausbildung oder Berufsleben über Umzüge bis hin zu Anfängen bzw. Enden in Beziehungen oder Familie. Auch bei uns kommt dabei einer vernetzten Konfirmand*innen-Arbeit zentrale Bedeutung zu, deren Schlüsselfunktion für die weitere religiöse Entwicklung etwa die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD noch einmal unterstreicht.

3. Finnisch-lutherische Tradition

Anders als in Deutschland, das traditionell durch das Gegenüber zweier gleichstarker christlicher Konfessionen geprägt (gewesen) ist, war in Finnland lange Zeit vor allem die Evangelisch-Lutherische Kirche prägend. 96 Prozent der konfessionell gebundenen finnischen Christen gehören ihr bis heute an. Neben ihr hat auch die autonome Orthodoxe Kirche Finnlands den Status einer Volkskirche und eine lange Tradition bis hinein ins Mittelalter. Größenmäßig spielt sie jedoch eine geringere Rolle mit 60.000 Mitgliedern (ca. 1,1 Prozent der Bevölkerung). Zur römisch-katholischen Kirche gehören nur 16.000 Menschen.

Die lutherische Kirche hat dadurch einen anderen Charakter als in Deutschland. Sie definiert sich viel weniger aus dem Gegenüber der Konfessionen, trägt vielmehr selbst starke katholische Elemente in sich. Das zeigt sich im Alltag schon rein optisch im Tragen von Kollarhemden bei allen kirchlichen Mitarbeitenden (Pfarrer*innen schwarz, Diakon*innen grün, Jugendmitarbeiter*innen blau) oder in der liturgischen Kleidung. Der Gedanke apostolischer Sukzession ist für das Bischofsamt wichtig, die Gottesdienste sind hochkirchlicher geprägt, es gibt eine ausgeprägtere Sakramentsfrömmigkeit.

Theologisch ist die Kirche zurzeit mit ökonomisch notwendigen Strukturanpassungen, Fragen des Umgangs mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und der Frauenordination beschäftigt (Frauen werden seit 1988 ordiniert, es gibt drei Bischöfinnen, aber verschiedene finnische Missionsgesellschaften tun sich damit schwer). Sehr beeindruckend war der „gesungene Glaube“ – die Inbrunst und Gesangskraft, mit der die Geschwister ihrem Glauben musikalisch Ausdruck verleihen.

Als theologische Impulse wirken bei mir die Fragen nach, was es für uns heißt, den eigenen evangelischen Glauben nicht primär „ex negativo“, sondern positiv zu formulieren, wie wir auch vermeintlich „katholische“ Traditionselemente aus der 2000-jährigen Kirchengeschichte als Teil des eigenen protestantischen Glaubens neu entdecken können und welche Rolle dabei etwa einer neuen evangelischen Wertschätzung von Ritualen, von reflektierter religiöser Emotionalität und von Mystik zukommt.

4. Gemeindediakonie

Ein besonderes Charakteristikum der Evangelisch-Lutherischen Kirche, das mich bei unserer Reise besonders beeindruckt hat: Die diakonische Arbeit ist direkt bei den Gemeinden angesiedelt und auf Engste mit der übrigen Gemeindearbeit verwoben. Dies ist eine Folge der Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs. Die finnische Landessynode hat damals beschlossen, dass jede Gemeinde mindestens einen Diakon oder eine Diakonin einstellen muss, um Menschen in Not zu unterstützen und die Verbindung zu den staatlichen und kommunalen Sozialdiensten herzustellen. Große, selbständige diakonische Werke wie bei uns gibt es daher nicht. Die Evangelisch-Lutherische Kirche ist vielmehr selbst klar diakonisch profiliert und dadurch tief in die Gesellschaft vernetzt. Gerade in einer sich stärker säkularisierenden Gesellschaft spielt das eine auch missionarisch wichtige Rolle. Auch das Tragen des grünen Kollarhemdes durch die diakonischen Mitarbeitenden macht die geistliche Dimension ihrer Arbeit deutlich. Das unterscheidet die Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands auch von den anderen Konfessionen und Religionen im Land. Die Frage, wie wir unsere Gemeinden diakonisch stärker profilieren können und Menschen den oft bekundeten Zusammenhang von Kirche und Diakonie ganz alltäglich erfahren können, nehme ich weiter mit.

5. Nato-Mitgliedschaft und Nähe zu Russland

Finnland hat eine lange, wechselhafte Geschichte mit Russland im Ringen um die eigene Unabhängigkeit. Bei einem Besuch auf einem Soldatenfriedhof, der gerade von jungen Leuten gepflegt wurde, konnten wir davon etwas erfahren. Auf dem Gräberfeld lagen die Toten des Winterkrieges (1939/40, Finnland gegen die Sowjetunion), des Fortsetzungskrieges (1941-44, an der Seite der Wehrmacht) und des finnisch-deutschen Lapplandkrieges (1944-45, gegen die Wehrmacht, mit massiver Zerstörung Lapplands durch die deutschen Truppen). Als unser finnischer Begleiter erzählte, was diese politischen Wechsel etwa für die finnischen Soldaten jüdischen Glaubens bedeuteten, brach ihm die Stimme.

In der Zeit nach 1945 hatte Finnland hatte eine besondere Nähe zur Sowjetunion und eine vermittelnde Haltung im kalten Krieg. Die unmittelbare geografische Nachbarschaft hat einen vielfachen ökonomischen, kulturellen und touristischen Austausch befördert – von Helsinki fährt ein durchgehender Zug in dreieinhalb Stunden nach Sankt Petersburg. Die internationale, offene Haltung zeigt sich auch in der ungemeinen Sprachkenntnisse, mit der viele Finn*innen selbstverständlich Schwedisch, Englisch, Russisch und auch Deutsch sprechen.

Mit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich diese Beziehung schlagartig verändert. Finnland ist das jüngste Mitglied der Nato, ein von der finnischen Bevölkerung mit großer Mehrheit mitgetragener Wechsel in der Außenpolitik. Wie einschneidend dies ist, konnten wir selbst in der Hauptstadt sehen, wo mit den betuchten Touristen aus Russland eine wichtige Einnahmequelle wegfiel und selbst namhafte Geschäfte vor finanziellen Schwierigkeiten stehen. Die andere geopolitische Lage ist mit einer ganz anderen Form von Nähe, Verbundenheit, aber auch Bedrohung verbunden. Die Ablehnung der religiösen Legimitation des Krieges durch die Spitzen der Russisch-Orthodoxen Kirche durch die Vertreter*innen der Evangelisch-Lutherischen wie der Orthodoxen Kirche Finnlands war dabei denkbar klar und scharf.

Ich freue mich, wenn wir den interessanten Kontakt zu dieser europäischen Geschwisterkirche weiter pflegen können.


Theologische Impulse (135) von Präses Dr. Thorsten Latzel

Bild: Felsenkirche Helsinki, eigene Aufnahme

Weitere Texte: www.glauben-denken.de

Als Bücher: www.bod.de

  • 6.11.2023